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Der Roßsteinzwanziger

  

Eine Erinnerung an Hermann Swoboda, gestorben am 16. Januar 2006

 von Ulrich Dillis

Fünfzehn Jahre war ich weg gewesen, weg in der Fremde, und vor zwei Jahren wieder zurückgekommen nach München, in meine alte Heimatstadt. Ich hatte ein wenig herumsuchen müssen nach einer Wohnung und dann doch eine schöne Bleibe gefunden am Josephsplatz, in der Maxvorstadt, dem Viertel, in dem ich auch als Student schon gewohnt hatte.

Im Sommer bin ich am Abend gern in den Elefantengarten gegangen, zum Griechen, und hab mich draußen hingesetzt mit einem Bier und einem Buch und hab gelesen und mir die Leut angeschaut, die mir da übers Leben gelaufen sind, in meinem wiedergefundenen München. Da ist der schwarze Zeitungsverkäufer gewesen, der immer lustig gewesen ist und gelacht hat, der ältere Herr, der am Nebentisch gesessen ist, langsam seinen Weißwein getrunken und den ganzen Abend vor sich hin sinniert hat, die jungen Griechen, die voller Freud am Leben laut einen Geburtstag gefeiert haben, wie man ihn halt feiert in Griechenland, und all die anderen Gäste, die draußen gesessen sind und ein Bier oder einen Wein getrunken haben.

Schön warm wars und der Garten ist voll gewesen, ein Gitarrenspieler hat spanische Lieder gespielt, und ein Biss-Verkäufer mit einem Hut auf dem Kopf ist durch die Reihen gegangen, und er hat einen Schnäuzer gehabt und listig blickende Äuglein hinter seiner Brille, und hat immer ein bisserl einen Spaß gemacht, damit er sein Heft verkauft; mit ein paar Gästen ist er speziell gewesen und hat sich gerne zu denen an den Tisch gehockt, zum Ratschen halt.

Und ich hab nicht nur mein München wiedergefunden gehabt, sondern auch mein Oberbayern und die schönen Berge im Oberland, und immer, wenn das Wetter es zugelassen hat, bin ich am Samstag oder am Sonntag hinausgefahren mit der Bahn in die Berge und hab da meinen Frieden gesucht und gefunden und Schönheit und Erholung von all den Gräuslichkeiten in der Welt.

Und einmal, es ist an einem Samstag abend im Elefantengarten gewesen, sind der Hermann, so hat er nämlich geheißen, der Biss-Verkäufer mit seinem Hut, dem Schnäuzer und den listigen Äuglein, und ich auch ins Ratschen gekommen, und ich hab ihm erzählt von meiner Tour auf die Brecherspitz, die ich an dem Tag gemacht hatte, und hab ihn gefragt, ob er sie denn kennt, die Brecherspitz. Da hat er gelacht und erzählt, daß er ein Schlierseer Bua wär, und kaum einer die Brecherspitz besser kennen tät als wie er. Daß er ein ganz Voglwuider gewesen wär und immer vorne weg, "imma Voidampf!". Überall, wo er als Koch eine Arbeit gehabt hätte, hätte er voller Sehnsucht auf die Stund gewartet, an der die Arbeit zu End gewesen wär, und er hinauf hat können mit seinen Spezln in die Berge, die er doch so sehr geliebt hat.

Und dann haben wir uns erzählt von den Bergen, auf denen er schon gewesen ist, und von den Bergen, auf denen ich schon droben gewesen bin, und so ist es spät geworden, wie wir einander erzählt haben, der Hermann und ich.

Ein paar Wochen später, Ende August, hab ich mir den Roßstein vorgenommen gehabt, von Lenggries über das Mariaeck und die Roßsteinalmen über den Klettersteig hinauf auf den Gipfel, dann wieder hinunter zur Weißach, und von dort mit dem Bus und der Bahn wieder heim. Wie ich in München in der Früh los bin, hat es geregnet. Wie ich im Zug gewesen bin, hat es geregnet. Wie ich in Lenggries ausgestiegen bin, hat es geregnet. Ich hab mir voll Trotz den Poncho übergezogen und bin losgegangen, im Regen. Ich bin durch den Regen gestapft, gestapft und gestapft. Um mich ist es naß gewesen und grau, und mein einziger Freund ist der Höhenmesser gewesen, den ich immer in meiner Hand gehabt hab, und dem sein Zeiger sich bei meinem Marsch langsam vorwärtsgeschoben und meinem traurigen Trott wenigstens noch irgendeinen Sinn gegeben hat.

Unterwegs ist freilich außer mir niemand bei diesem Sauwetter gewesen, und mutterseelenallein bin ich den Berg hochgestiefelt und endlich am Mariaeck gewesen.

Dem Schlammweg, der hernach gekommen war, und in den man bis hoch in die Bergstiefel eingesunken ist, dem hab ich schon ein freundliches "Grüß Gott" gesagt, weil er doch zumindest eine Abwechslung gewesen ist, der Schlammweg, wenn auch nicht gerade die allerschönste, und es hat jetzt von vorn geregnet anstatt von hinten, auch das ist ganz anders gewesen als vorher.

Und wie ich endlich zu den Roßsteinalmen gekommen bin, hab ich gemeint, jetzt hab ich es schon fast geschafft bis zum Roßsteingipfel und zur Hütte, wo es dann endlich was Warmes gibt, eine heiße Erbswurstsuppe mit Würstl oder so etwas.

Und wie ich am Wegkreuz gewesen bin, da, wo es hinuntergeht nach Kreuth und Glashütte, da hat der Regen nachgelassen gehabt, und es ist nur noch ein Nebelreißen dagewesen, ein recht dichtes Nebelreißen, und da bin ich übermütig geworden.

Und ich hab bei mir gedacht, bis hierher hab ich es ja gut geschafft, und warum nicht den Klettersteig probieren, wie ich es ja vorgehabt hab, als ich mir die Tour angeschaut hab auf der Karte, daheim im Trockenen. Und wenn es zu gach ist oder zu naß, kannst du immer noch zurück und den Altweiberweg gehen, habe ich mir gedacht, und bin los, in die Richtung, in die der Wegzeiger für den Klettersteig gezeigt hat.

Ich bin also los, den, wie ich gemeint hab, Klettersteig, entlang, bin gestiegen und gekraxelt, und der Steig ist schmäler und schmäler geworden, und die Latschen dichter, und der Weg ist noch schmäler geworden und die Latschen noch dichter, und dann hat er aufgehört, der Klettersteig, und vor mir ist die Felswand gewesen.

Und gleich hat es wieder zu schütten angefangen, und mitten im Regen bin ich dagestanden, ich Depp, und hab nicht mehr gesehen, wo ich hergekommen war. Vor mir ist die Felswand gewesen, und hinter mir ist es recht gach den Hang hinuntergegangen, den ich hochgekraxelt war und nicht mehr gewußt hab, wo.

Ganz verloren bin ich nicht gewesen, ich hab ja das Telephon eingesteckt gehabt, und einen Empfang hab ich auch gehabt und die Nummer von der Bergwacht.

Aber mich von der Bergwacht von einem Bergerl wie den Roßstein pflücken zu lassen, das hätte ich schon ganz und gar nicht wollen und wär mir sehr gegen die Ehr gegangen, das hätte ich nur gemacht, wär es gar nicht anders aufgegangen.

Und wie ich da gestanden bin, recht trübselig, und eine Mordswut auf mich gehabt hab, da ist mir was in den Sinn gekommen, was einem anscheinend gern in den Sinn kommt, wenn man nicht mehr weiter weiß: Man schließt einen Handel ab mit denen oder dem da oben und gelobt, was man alles tun wird hinterher, wenn alles doch gut nausgangen ist.

Und wie ich so gedacht hab an eine Spende, eine gute Tat und solcherne Sachen, und daß ich vielleicht einen Zwanziger hineinstecken tät in einen Opferstock, da ist mir auf einmal der Hermann mit seinem Hut, dem Schnäuzer und den listigen Äuglein eingefallen - oder erschienen, wie man so will, und da hab ich ihm den Schein versprochen, wenn ich heil wieder von der blöden Wand hinunterkomme, und er hat ihn auch bestimmt brauchen können, den Schein, der Hermann.

Und er, der alte Bergfex, der hätte, wär er an meiner Stell gewesen, ganz bestimmt das richtige getan, ruhig und ohne Furcht und Angst. Und so hab ich gemacht, was der Hermann gewiß auch gemacht hätte, und hab mir gesagt, daß es ja nicht so schwer sein kann, den Weg hinunter zu finden, wenn ich ihn schon hinaufgekommen bin, und daß ich halt vorgehen muß mit einer gewissen Systematik.

Und so hab ich markiert, wo ich gestanden bin, und mit der Systematik bin ich von da aus los in alle  Richtungen, die man hat gehen können, und hab aufgepaßt, ob ich nicht was kenne vom Aufstieg her.

Und wirklich hab ich schon bald ein paar Latschen gesehen, die sind ganz rund gebogen gewesen, und die hab ich beim Heraufkommen auch schon gesehen gehabt, und von da aus hab ich wieder andere Sachen entdeckt, und so bin ich recht bald wieder unten gewesen beim Wegkreuz, und da hab ich auch den richtigen Weg gesehen, den ich hätte gehen sollen, ein paar Meter weg und viel breiter als meiner, aber hab ihn nicht sehen können wie ich los bin, den blöden Weg, weil es gar so genebelt hat.

Aber einen Klettersteig hab ich jetzt nicht mehr gehen wollen, und so bin ich über den

Altweiberweg zum Roßsteinhaus gestiegen, aber bevor ich mich da umgezogen und was gegessen und getrunken hab, hab ich einen Zwanziger aus meinem Portemonnaie genommen und separat gesteckt, weil der ist für den Hermann gewesen, der Zwanziger.

Und wie ich dann heimgekommen bin am Abend, hab ich den Zwanziger genommen, ihm mit einer Büroklammer einen Zettel drangeheftet und draufgeschrieben: "Roßsteinzwanziger". Dann hab ich ihn wieder eingesteckt, damit ich ihn bei mir hätte, wenn ich ihn wieder treffen tät, den Hermann.

Eine Zeitlang später ist wieder ein schöner Spätsommer gewesen, eigentlich schon ein Herbst, und ich hab den Hermann im Elefantengarten gesehen mit seinem Hut, dem Schnäuzer, und den listigen Äuglein, wie er gerade mit einem Biss- Paket am Verkaufen gewesen ist. Ich bin zu ihm hingegangen, hab ihm erzählt von meinem seltsamen Abenteuer am Roßstein, und daß ich ihm den Zwanziger versprochen hätte, wenn ich da heil herauskomme, daß ich heil da herausgekommen wär, und er also der rechtmäßige Eigentümer des Scheines wär. Er hat den Schein genommen und den Zettel gelesen, hat gelacht, sich bedankt, mir die Hand geschüttelt und ist weiter im Garten herum, um seine Biss zu verkaufen. Und ich hab ganz heimlich mit einem Aug gesehen, daß es ihn recht angerührt hat, wie ich in meiner Not ausgerechnet an ihn gedacht hab, und daß er sich ein Paar Schusser aus den Augen hat wischen müssen, der Hermann, mein Freund.

Und wieder ein paar Tag später, vielleicht waren es auch mehr, hat er sich zu mir gesetzt im Elefantengarten, ist recht gerührt gewesen, und hat sich nochmals bei mir für den Roßsteinzwanziger ("es is ja wirkli net des Geld, sondern...") bedankt, und ich hab schon gewußt, wie er es gemeint hat, ich hab ein Bier getrunken und er einen Retsina, und da haben wir vom unserm Leben erzählt, der Hermann von seinem und ich von meinem. Es war ihm nicht alles geglückt, dem Hermann, und mir auch nicht, und so sind wir ins Ratschen gekommen.

Und irgendwann hat er mir dann erzählt, wie es ihm jetzt geht, so gesundheitlich. Daß er, eine Zeit wars her, angefangen hat, Blut zu husten und deswegen in die Poliklinik gegangen war; daß die Professoren bei "Leuten wie ihm" immer zuerst einen Verdacht auf Tuberkulose haben, und daß schließlich, als man ihn ernsthaft auf einen Krebs untersucht hat, die Diagnose: "Lungenkrebs in sehr fortgeschrittenem und nicht mehr operablem Zustand" geheißen und daran nicht mehr zu rütteln war.

Und auf ihn eingeredet hätten sie, die Professoren, und ihn beschworen, doch endlich das Rauchen aufzugeben, und er hätte gelacht und gesagt, daß das ein Blödsinn wär, weil jetzt wär es eh zu spät,  und die Professoren wären ganz besorgt gewesen, weil er doch ein Todgeweihter wär, und komisch geschaut hätten sie, wie er da hätte lachen können, und er, der Hermann, hätte gesagt, er hätte in den Bergen dem Tod schon zu oft ins Gesicht geschaut, als daß ihm der noch einen Schrecken hätte einjagen können, und daß ein jeder irgendwann einmal dran wär mit dem Sterben.

Und da hätten sie gesagt, daß er wohl ein ganz harter Brocken wär, der Hermann. Ja, so wäre das gewesen, in der Poliklinik, und sie hätten nicht verstanden, daß er ihn so leicht nimmt, den nahen Tod vor seinen Augen, aber er, der Hermann, wär noch nie ein Lamentierer gewesen, und es täts ja auch nicht bessermachen, das Lamentieren.

Und da hat sich der Hermann eine neue Filterlose angezündet, mich freundlich angeschaut, mir die Packung hingereicht und mich gefragt: "Wuist aa oane?".

Das hats mir schon sehr gegraust, und ich bin recht froh gewesen, daß ich selber aufgehört hab mit der Raucherei, dem Schmarrn, dem blöden, und hab mich bedankt und gesagt, daß ich nicht mehr rauch, seit zwei Jahr schon nicht mehr.

Dann hat der Hermann noch ein bisserl erzählt, wie es so ist, wenn man einen Krebs hat an der Lunge. Daß das Bluthusten am Tag gar nicht ganz so arg wär; wirklich schlimm und arg wär es bloß am Morgen, wenn es bereits geronnen ist und man es raushusten muß, das Blut, das schwarze Blut halt. Und, daß er schon noch eine Hoffnung hätte, weil sich der Krebs manchmal abkapseln tät, ja, manchmal tät er das machen, der Krebs.

Dann hat er mich eingeladen zum Schwammerlsuchen im Spätherbst und gesagt, er tät Stellen kennen beim Schliersee, die tät ein Schwammerlsammler nicht einmal seinem besten Freund verraten, aber mir, mir würde er sie schon verraten.

Es ist nicht dazu gekommen, der Spätherbst ist ein früher Winter gewesen mit Schnee und Eis und ein halbes Jahr dageblieben, und am 16. Januar hat es ihn weggeweht, den Hermann. Es hat mir einen kleinen Stich gegeben, als ich das hab lesen müssen, aber es ist ja ganz schnell gegangen, und er hat im Schlaf nichts davon gemerkt und hat auch nicht leiden müssen und nicht ins Krankenhaus, das er gar nicht mögen hat, weil er die Freiheit so geliebt und gebraucht hat.

In den Bergen wenn ich bin, da denk ich oft an ihn, den Hermann, und manchmal, wenn die Wolken gar so niedrig hängen und die Nebel garstig gehen, da ist er auf einmal wieder da, der alte Bergfex mit seinem Hut, dem Schnäuzer und den listigen Äuglein, blinzelt mir zu und paßt auf, daß ich nicht mehr so einen Blödsinn mache wie damals, als die Geschichte mit dem Roßsteinzwanziger passiert ist, darauf paßt er auf, der Hermann.

 

© 2007 by Ulrich Dillis

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